Räume formen Menschen: Fremde Räume

Oder: Warum sich Großraumbüros falsch anfühlen und Kinder keine Einzelzimmer haben sollten.

Dies ist ein dreiteiliger Essay über die Wirkung von Räumen auf Menschen.


Von der Wohnung bis zum Büro bestimmen kleine und große, geschlossene und offene Räume unseren Aktionsradius. Räume wirken nicht nur als physischer Aktionsraum. Sie setzen auch die Regeln des psychischen Raums. Damit formen sie unsere Persönlichkeit, Kompetenzen und kehren das Beste und auch das Schlechteste von uns nach außen.

Stets und ständig befinden wir uns in Räumen, bewegen uns in diesen und passen diese an uns und unseren Bedürfnissen an:

  • unsere Wohnung oder das WG-Zimmer
  • unseren Arbeitsplatz oder das Büro
  • unser Fahrzeug oder Bus, Bahn
  • den öffentlichen Raum, die Wege, Straßen, Plätze, Parks, Strände

Wir wissen, welche Räume uns gut tun, beispielsweise die offene Landschaft eines Gebirgsausflugs oder ein Spaziergang einen Flusslauf entlang. Die Räume, in denen wir uns aufhalten, wirken direkt auf unsere Befindlichkeit. Das liegt zum einen an den Räumen selbst, zum anderen an den Menschen, mit denen wir – freiwillig oder aus fremder Veranlassung – diese Räume teilen.

In einem systematischen Ansatz können wir zwischen fremden Räumen, geteilten Räumen und eigenen Räumen unterscheiden. Fremde Räume gehören anderen, und wir sind nur temporäre Gäste. In geteilten Räumen verbringen wir einen Teil unseres Lebens und können sie (bedingt) mitgestalten. Der eigene Raum gehört komplett uns selbst, hier stellen wir die Regeln auf, und alles ist für uns einfach perfekt.

Perfekt ist oft das Gegenteil von Gut, deshalb verlangen vor allem eigene Räume eine intensive Betrachtung und Risikobewertung.

Erst durch unsere eigenen Gestaltungen, Regeln oder Nutzungen wird ein Raum tatsächlich zu unserem Raum. Man stelle sich vor, man könnte in der eigenen Wohnung nichts verändern, alles müsse exakt so genutzt werden, wie es vorgefunden würde. Oder man könne sich seinen Arbeitsplatz nicht personalisieren, und sei es nur durch ein Bild, eine individuelle Platzierung der Utensilien oder eigene Icon-Anordnung auf dem Desktop.

Szenenbild: Loriots „Pappa ante Portas“ (1992)

Klein und unbedeutend fühlt sich Heinrich Lohse im Sessel vor dem Chef-Schreibtisch.

In eigenen Räumen können wir uns wohlfühlen, in fremden wirkt der Gestaltungswille des Besitzers auf uns. Chef-Büros sind nicht nur groß und prachtvoll, weil es dem Chef so gefällt, sondern weil jeder Untertan darin bereits räumlich seinen Platz in der Futterkette spürt: klein und unbedeutend.

Doch wir verbringen den Großteil unseres Lebens nicht in Kirchen und nicht eingebunden in tradierte Rituale. Sicher, jeder Raum, in dem Menschen zusammenkommen, hat seine eigenen Rituale:

  • das gemeinsame Frühstück oder Abendessen der Familie
  • der Mittagsschlaf im Kindergarten oder das Spiel auf dem Spielplatz
  • Besprechungen mit dem Chef auf Arbeit
  • Klienten- oder Kundengespräche
  • Warten, Einsteigen, Umsteigen auf Bahnhöfen, Fahren in der Bahn oder im Bus

Diese werden miteinander ausgehandelt und die Regeln und Rituale regelmäßig durch Grenzverletzungen überprüft, bestätigt oder neu verhandelt. Im Miteinander der Menschen im Raum ist jeder Mensch einzeln wahrnehmbar und erlebt sich als Individuum (in der Abgrenzung zu den anderen im Raum). Gleichzeitig erlebt er sich als sozial integriertes Wesen, dessen Bedeutung erst im Verhältnis zu den anderen deutlich wird.

Fremde Räume

Jeder Raum ist durch seine sichtbaren und unsichtbaren Grenzen definiert. Innerhalb dieser Grenzen gelten die Regeln des Raumes. Diesen ist das Verhalten der Menschen im Raum unterworfen. Regelverstöße werden geahndet, entweder durch Verweis aus dem Raum oder durch Verhaltensvorgaben bzw. Bußhandlungen oder durch soziale Ächtung. Je strikter diese Regeln und je rigider die Ahndungsmöglichkeiten, desto wichtiger ist die klare Grenze.

Der Raum wird quasi zum Austragungsort einer (fremden) Macht, der sich der Mensch darin unterwirft.

Kirchräume

Die Kirche als fremder Raum

Kirchen sind darauf angelegt, als eigener Raum wahrgenommen zu werden, der in jeder Hinsicht anders wirkt als der Raum außerhalb.

Kirchen sind besonders markante fremde Räume. Sie gehören Gott, also einer Macht, die keiner direkt erleben, sondern nur jeder individuell erfahren kann. Durch die Mauern des Kirchenschiffs sind die Grenzen zwischen Innen und Außen klar erlebbar. Schall breitet sich in einer Kirche anders aus als außerhalb, die Temperatur und Luftverhältnisse sind anders, oft gibt es sogar ganz eigene Geruchsreize. Der Innenraum einer Kirche ist vollständig darauf angelegt, mit allen Sinnen als anders als die Außenwelt erfahren zu werden.

Bei einigen modernen Kirchgebäuden wird der Unterschied zur Außenwelt nicht in aller geschilderten Fülle und Wucht erreicht, sondern bewusst ist die Intensität der Trennung zwischen Innen und Außen vermindert. Damit rückt ein Kirchenbesuch wieder näher an die räumlichen Alltagserfahrungen der Menschen, was zumindest theoretisch die Hemmschwelle für den Besuch senkt. Doch die alten Gebäude ihrer meist unbekannten Baumeister verweisen in ihrer Schöpfer-Unpersönlichkeit ebenfalls auf eine unbestimmte Macht. Die Machtvertreter vor Ort sind nur Vertreter der kirchlichen Ordnung. Sie bestimmen die Regeln nicht selbst, sondern achten lediglich auf deren Einhaltung.

Kirchen sind so groß und ausladend und erhaben, damit der Mensch sich darin klein und unbedeutend vorkommen kann – und er kann sich den Raum nicht zueigen machen, eine eigene Gestaltung oder Anpassung ist weder vorgesehen noch möglich. Räumlich und spürbar sind wirklich alle Kirchgänger gleich. Sie sitzen gleichberechtigt und gleichbepflichtigt auf den gleichen Holzbänken dem Altar zugewandt. Dieser bildet das Aufmerksamkeitszentrum.

Warum empfinden Kirchgänger dies jedoch nicht als unangenehm, sondern gehen gern in die Kirche?

  • Sie würdigen das Gefühl, das ihnen dieser Raum vermittelt.
  • Sie fühlen sich wohl in der Gemeinschaft der anderen Kirchgänger.
  • Die Rituale, denen sie beiwohnen, erleben sie als Bereicherung für ihr Leben.
  • Der Aufenthalt ist zeitlich limitiert durch die Dauer der Rituale, und für diese Dauer erleben sie bewusst dieses andere Raumgefühl – als Kontrast zu ihrem Alltag.

Kirchen sind Orte der Rituale. Zu Ritualen gehören soziale Konventionen, Regeln und Grenzen. Der feste Rahmen von Ritualen gibt der sozialen Gemeinschaft der Ritual-Teilnehmer ebenfalls einen Rahmen und damit Halt. Der Kirchenraum unterstützt dies in seiner Erscheinung von Größe, Erhabenheit und Festigkeit.

Die Kirche ist insofern einfach zu „erlernen“, weil die Regeln bestehen, zur Kenntnis genommen und befolgt werden und nicht hinterfragt werden.

Kasernen

Ein Kasernenhof hat mit einer Kirche gemein, dass darin nicht die Regeln der Menschen vor Ort gelten, sondern jene Regeln, die eine höhere Macht aufgestellt hat. Der Mensch soll sich als unbedeutend und bloßes Herdentier erleben, das dem Willen des obersten Feldherrn zudiensten ist. Der Kasernenkommandant kann allenfalls im Rahmen der zugestandenen Detailregelungen den Kasernenraum für die Insassen individuell gestalten, beispielsweise auf die Pflicht zur Kopfbedeckung verzichten.

Eben weil die regelnde Macht nicht greifbar ist und alle Abläufe streng geregelt ablaufen – oft unterstrichen durch Ortsangaben innerhalb des Kasernengeländes –, erlebt sich der Soldat in der Kaserne nicht als Individuum, sondern als Herdentier. Sicher, in der modernen Kaserne unserer Bundeswehr gilt ein anderes Ideal, aber dessen Probleme sollen andere ergründen.

Die Regelungen zum Schlaf (Zapfenstreich, Vielbetträume), zur Nahrungsaufnahme (deindividualisiert in der Masse nach Zeitplan), zur Körperpflege (in Massenduschräumen) oder zur Freizeitgestaltung (gemeinsam im Mannschaftsheim) sorgen für einen konstanten Gruppendruck. Für Individualität ist kaum Platz, jeder muss exakt und vorhersehbar funktionieren, damit aus den Soldaten ein Soldatenheer wird (zur „Soldatenherde“ ist es nur eine kleine Buchstabendrehung weiter). Die Kaserne ist darauf angelegt, den Menschen zum Teil der Maschine werden zu lassen.

Der Kasernenraum ist weniger baulich interessant, als vielmehr durch seine enorm detaillierte Ritualisiertheit und Geregeltheit. Für jede Tätigkeit gibt es einen vorgeschriebenen Ort und gegebene Zeiteinheiten. Kreativität oder Infragestellen sind nicht gestattet.

Die Landschaft

Einen besonderen fremden Raum bildet eine Naturlandschaft. Diese ist in gewisser Weise das komplette Gegenteil zu Kirche und Kaserne. Auch dieser Raum will (und darf) nicht durch die Menschen in ihm verändert oder anders als angeboten genutzt werden. Aber zunächst einmal hat eine Landschaft selten solch klare Grenzen wie Kirchenmauern oder Kasernenumzäunung.

Zum anderen fehlt eine direkt ahndende Macht. Wenn wir die Regeln der Landschaft nicht befolgen, spüren wir dies selten direkt, sondern allenfalls indirekt später. In gewisser Weise sind die Prinzipien der Naturvölker, die ein Leben im Einklang mit der Natur fordern, die theologische Variante des Verhaltens im Landschaftsraum.

Großraumbüro

Ein Großraumbüro ist diffiziler zu analysieren. Zum einen gibt es verschiedene Arten, ein „Großraumbüro“ umzusetzen:

  • als „Raum-Container“, der viele gleichartige Kleinräume (oft „Cubicles“) enthält
  • als festes Muster von Arbeitsplätzen, das die größtmögliche Menge von Menschen in einem Raum unterbringt
  • als großer Raum, der verschiedene Büro-Bereiche enthält
  • als kreativer Brennpunkt von möglichst vielen Menschen, die miteinander arbeiten

Die Zusammenarbeit der Personen in solchen Großraumbüros ist in der Auflistung zunehmend kooperativ. Gleichermaßen sind die Hierarchien sowie die in diesen Räumen zu bewältigenden Aufgaben zunehmend komplex:

Arbeitsweise Hierarchien Aufgaben
Cubicles individuell potenziell verschiedene Ebenen; aber nur als Einzelkämpfer individuelle Aufgaben ohne Interdependenzen
gleichwertige Arbeitsplätze separat; kurze Kommunikation möglich, aber unerwünscht nur eine Hierarchie-Ebene (als Arbeitsherde) plus „Vorsteher“ kleinteilige Einzelaufgaben (je max. 5 Minuten)
Büro-Bereiche innerhalb eines Bereiches potenziell teil-kooperativ meist je Bereich ein Vertreter der nächsten Hierarchie-Ebene dabei operatives Geschäft, kleine Projekte
kreativer Brennpunkt kommunikativ und kooperativ hierarchie-neutral komplexe, kreative Projekte

Insbesondere für Cubicles und Arbeitsplätze werden die Regeln des Miteinanders durch eine Haus- oder Arbeitsplatzordnung geregelt. Ergänzend achtet die Masse der anderen Mitarbeiter darauf, dass sich kein produktivitätshemmendes Verhalten einschleift, und erzieht sich durch Missbilligung gegenseitig. Durch Produktivitätsvorgaben oder Eingriffe des „Vorstehers“ wird unproduktives Verhalten ebenfalls verhindert.

Fremde Räume gehören anderen

Die gezeigten Beispiele – Kirche, Kaserne, Landschaft, Großraumbüro – verdeutlichen, dass die Menschen darin dem Raum fremd sind. Dieser gehört ihnen nicht, und das soll auch so wahrgenommen werden. Im Fall der Kirche und Kaserne ist dies beabsichtigt, und der Raum auf diese Unterordnung hin optimiert. Die Landschaft dagegen bietet die positive Variante, den Aufenthalt in einem fremden Raum zu erleben. Je nach Aufgabe und konkreter Ausgestaltung kann ein Großraumbüro ebenfalls als fremder Raum erfahren werden oder als Ort der euphorischen Produktivität.

All diese fremden Räume gehören nicht den Menschen in ihnen, sondern Gott, dem Feldherrn oder dem Chef. Diese stellen auch die die Regeln des Zusammenseins auf und lassen deren Missachtung ahnden. Wir erleben uns in solchen Räumen als Herdentier und ordnen uns dem Miteinander und dessen Regeln (bedingungslos) unter. Wir haben keinerlei individuelle Gestaltungsmöglichkeiten, den Raum so umzugestalten, dass wir uns weniger fremd fühlen. Allenfalls auf dem Mikro-Level können wir einen Arbeitsplatz gestalten oder in einer Kasernenstube gerade so viel Individualität installieren, dass das Auswechseln der nutzenden Person keinen relevanten Aufwand verursacht.

Das Zusammenleben in solchen Räumen ist fremdbestimmt und reguliert. Dazu gibt es Regeln, die als kodifizierte Regelbücher oder tradierte Rituale den Rahmen setzen. Diese werden allenfalls bei besonders starkem Druck angepasst. Somit lernen wir, uns (einem Raumerlebnis) unterzuordnen und Rituale zu befolgen (Kaserne, Kirche, Cubicles) oder diese als besondere Erfahrung zu erleben (Kirche, Landschaft).

Nachtrag: Büro-Architekturen und ihre Wirkung

In Cubicles arbeitet jeder für sich selbst, theoretisch ungestört von den anderen. Das pragmatische Arrangement der Arbeitsplätze ermöglicht zwar kurze Kommunikation, die Raumsituation fördert dies jedoch nicht.

Ein festes Muster von Arbeitsplätzen, die von gleichartigen Sachbearbeitern besetzt sind, veranschaulicht die fremde ordnende Macht. Eine individuelle Raumgestaltung ist nahezu unmöglich, allenfalls erfolgt eine persönliche Aufwertung des konkreten Arbeitsplatzes, beispielsweise durch ein privates Foto. Der ganze Raum symbolisiert die pragmatische Zweckbindung und damit die Austauschbarkeit jedes einzelnen. Kommunikation innerhalb des Raumes wird als störend empfunden und ist meist auf Schrift begrenzt. Jedes Telefonat, jedes Bewegen im Raum wird von allen anderen registriert und wirkt als Unterbrechung. Damit eignet sich eine solche Anordnung vorwiegend für kleinteilige Aufgaben, die kein tiefes Versinken erfordern, sondern jederzeit unterbrochen und verlustarm wieder aufgenommen werden können: Buchhaltung, Datenerfassung, im Prinzip für alle Vorgänge, die einzeln jeweils maximal fünf Minuten dauern würden (und dürfen). Einen buchhalterischen Bilanzbericht oder eine Jahresprognose oder einen Vortrag würde man in einem solchen Umfeld kaum erstellen können. Selbst das detaillierte Analysieren eines individuellen Vorgangs ist erschwert.

Ein großer Raum, der in verschiedene Büro-Bereiche unterteilt ist, folgt dagegen meist baulichen Erfordernissen oder verdeutlicht die finanzielle Beschränkung bei der Büro-Installation. In den jeweiligen Bereichen finden sich meist Zeichen von Individualisierung, beispielsweise in der Wandgestaltung oder Möbelanordnung. Idealerweise gibt es Nischen oder abgetrennte Bereiche, in die sich Mitarbeiter für vertiefende Arbeiten allein oder im Mini-Team zurückziehen können. Während jeder einzelne Büro-Bereich im Großraum schon eher als geteilter Raum angesehen werden kann, sind solche Nischen eher fremde Räume, die temporär von Einzelpersonen genutzt werden können, ohne jedoch den Raum zu ihrem eigenen machen zu können, dies ist meist nur dem Chef in seiner Chef-Nische gestattet.

Ein solches Arrangement verschachtelt die Raumkonzepte: Die Grobaufteilung ist „fremder Raum“, die Detail-Aufteilung folgt den Regeln des geteilten Raums, und gelegentlich finden sich Nischen, die als eigener Raum gelten können. Eine gelungene Raumaufteilung und geeignete Regeln des Miteinanders lassen aus einer solchen Anordnung kommunikative und kreative Zentren werden, wie sie vor allem Start-ups schätzen. Jedoch kann die Raumgröße das Raumerleben nachteilig beeinflussen, sodass das über Großraumbüros mit festem Arbeitsplatzmuster Gesagte zumindest abgeschwächt weiterhin gilt.

Cubicle-Großraumbüros werden heute glücklicherweise kaum noch eingerichtet. Deren Vereinzelungen im Mitarbeiterheer simuliert eigene Räume, verdeutlicht aber vor allem die Vereinzelung. Die Menschen sind zwar dicht beieinander, aber die direkte Kommunikation ist erschwert. Damit wird nur ein Symptom kuriert, wobei die Kur aber mindestens so fragwürdig ist wie die raum-psychologischen Ursachen.

Was alle Großraumkonzepte berücksichtigen müssen, sind die Menschen darin. Diese bewegen sich, sie kommunizieren miteinander oder mit entfernten (Stichwort Telefon) – und alles kann von allen anderen wahrgenommen werden. Mindestens ebenso störend wie diese potenziellen Dauerablenkungen ist aber der psychologische Effekt: Menschen brauchen Kontrolle über ihr Leben. Ihr Leben wird für die Zeit ihrer Präsenz (also meist acht Stunden pro Tag) von ihrer Umgebung definiert. Ist diese Umgebung zu groß, um sie im Blick zu behalten, dann ist der Raum nicht mehr beherrschbar. Dieser fühlbare Kontrollverlust wird unterschwellig als beständige potenzielle Bedrohung erlebt: Wird am anderen Ende gerade über mich getratscht, wieso guckt YZ immer wieder hierüber, wo steckt eigentlich Kollege YZ, die stecken schon wieder ihre Köpfe zusammen …

Ganz normales Verhalten der anderen kann Anzeigen für Kommendes sein. Das soziale Kaffeesatzlesen ist zwar nicht ergiebig, beschäftigt den Geist vieler aber fortwährend. „Aus den Augen aus dem Sinn“ beschreibt die andere Option gut, denn bereits einige trennende Wände geben das Gefühl von Sicherheit zurück. Der Raum wird beherrschbar, da überschaubar. Und die Menge der direkten und indirekten Ablenkungen sinkt drastisch: Wenn bei hundert Großrauminsassen jeder pro Tag dreimal aufsteht, dreimal telefoniert und sich dreimal (kurz) mit einem Kollegen unterhält, gibt es 891 Ablenkungen für jeden einzelnen. Bei nur noch zehn Personen in einem Büro sind es nur noch 81. Rechnet man pro Ablenkung eine Minute Aufmerksamkeitsverlust, ist es ein Wunder, dass in einem Großraumbüro überhaupt etwas geschafft wird. Das kann nur noch mit der Abstumpfung der Insassen oder der Stupidität der Aufgaben erklärt werden.

Ja, sicher, es gibt Menschen, die arbeiten gern und effektiv in großen, freien und offenen Räumen. Dabei gibt es jedoch eine Korrelation zwischen Persönlichkeit bzw. Charakter, der Aufgabe und dem Raum. Langfristig werden Persönlichkeiten zu den für sie geeigneten Aufgaben tendieren und mit diesen zusammenfinden: Stupide Arbeit landet bei den einen, kreative Forschung bei den anderen. Bleibt die Korrelation zwischen Aufgabe und Raum. Für stupide Aufgaben genügen stupide Räume, für kreative Aufgaben braucht es kreative Räume.

Daher können stupide Aufgaben durchaus in einem Großraumbüro abgearbeitet werden. Doch wir haben es weiterhin mit Menschen zu tun: Je stupider die Aufgabe, desto willkommener ist jede Ablenkung. Das senkt die Produktivität, diese soll aber hoch bleiben, also werden die Leute alle in einen großen Raum gesperrt, der gut zu überwachen ist. Denn Großraumbüros haben den logistischen Vorteil, dass nur ein „Aufseher“ hundert Arbeiter und deren Arbeitsweise kontrollieren kann. Das klingt allerdings eher nach Fabrik im 19. Jahrhundert als nach Büroarbeit im 21. Jahrhundert. Für kreative Projekte und nicht-operative Aufgaben ist dagegen ein großer offener Raum sehr förderlich. Denn Mauern symbolisieren zumeist auch die Grenzen des Denkens. Wirklich frei denken ist in einem engen kleinen Zimmerchen kaum möglich, allenfalls der Blick aus dem Fenster (aus dem begrenzten in den freiem Raum hinaus) kann da etwas kompensieren.
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Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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