Im Film „Freier Fall“ entdeckt die Hauptfigur Marc (Hanno Koffler), dass man(n) trotz Freundin und Sohn eine Affäre mit einem Mann erleben kann. Dieses Gefühlsdreieck und dessen Konsequenzen werden in einer Kargheit und dokumentarischen Direktheit erzählt, die unbewusst an „Brokeback Mountain“ denken lassen. Hier wie dort geht es allerdings nicht um ein primär schwules Thema (also kein dramatisches Coming Out, bedeutungsschwere Selbstzweifel oder ähnliches), sondern um die Liebe zu einem anderen Menschen. Um die Liebe, die überraschend kommt, weil man(n) sie von dieser Seite nicht erwartet hätte.
Homophobie ist in beiden Filmen wichtiges Nebenthema, aber dominiert nicht die Stimmung des Films. So wie der wortkarge und stille Ennis del Mar (Heath Ledger) in „Brokeback Mountain“ keinen Ausdruck für sein Begehren findet, so fehlen auch Marc die Worte. Er kann sich, seine Wünsche, seine Ziele, sein Sehnen nicht verbal ausdrücken, und wirkt gerade deshalb in seinem Handeln umso lebendiger und realer. Gesten, Blicke, ungesprochene oder ungelenke Worte erzählen mehr als viele Zeilen Dialog.
Und in beiden Filmen findet ein heterosexueller Mann durch das Begehren und Drängen eines Homosexuellen zu jener neuen Facette seiner Sexualität. Zählen wir jetzt noch Christian aus „Verbotene Liebe“ dazu, dann haben wir drei präsente Fälle, in denen der „schwule Traum vom Heten-Bekehren“ wahr wird.
Wie realistisch ist das eigentlich, was uns Film und TV-Serie erzählen? Kann ein ganz normaler Hetero-Mann zum Schwulsein bekehrt werden? Wie kommen Schwule auf die Idee, Heten bekehren zu wollen? Wieso erzählen uns Film und Fernsehen davon? Muss man das sehen?
Realitätsgehalt
These: Der Schwule „bekehrt“ den Hetero. Das ist ziemlicher Nonsens. Zu seiner Sexualität kann niemand bekehrt werden. Jedenfalls nicht in dem Sinne, dass er eine seinem Wesen nicht entsprechende Wahl trifft. Sicher wird durch die sozialen Gegebenheiten viel vorgegeben. Marcs Mutter (Maren Kroymann) bringt das entrüstet auf den Punkt: „So haben wir dich nicht erzogen!“ Gelegentlich benötigt es „nur“ den Anschub von außen, um diese soziale Schale zu durchbrechen, um eine neue Seite an sich zu entdecken und sich zu trauen, diese auch auszuleben.
Es findet also keine „Bekehrung“ statt, sondern eine Ent-Täuschung. Solche Fälle gibt es zuhauf. Viele wissen bereits in ihren Teenagerjahren (wie Kurt in der Serie „Glee“), welche sexuellen Präferenzen sie haben. Andere experimentieren herum und entscheiden sich für eine Option oder verzichten auf die Entscheidung und genießen alle Möglichkeiten. Wieder andere stellen in späteren Jahren einstige Entscheidungen in Frage und entdecken, dass Familienglück mit Frau und Kindern nicht alles für sie ist. Kommt so alles in der Realität vor.
Neben der sozialen Prägung kommen als Faktoren Leidensdruck, Reflektiertheit, Ehrlichkeit (v.a. sich selbst gegenüber), Mut, äußere Einflüsse und viele andere dazu. Das menschliche Leben ist vielfältig, und es gibt zahlreiche Optionen, sein Glück zu finden. Manche sind offensichtlich, andere muss man sich erst selbst gestatten.
Bekehrung
Professionelle Schwimmer haben eine gute Figur. Beneidenswert. Wenn ich jetzt jeden Tag schwimmen trainiere, bekomme ich dann auch so einen Körper? Nein. Denn der gutgebaute Körper kommt nicht vom Schwimmen, sondern die Veranlagung zu einem solchen Körper wird durch das Schwimmen nur ausgenutzt. Ursache und Wirkung sind genau andersherum, als sie im ersten Moment scheinen: Weil jemand einen guten Körperbau hat, ist er für das Schwimmen geeignet, und wenn er entsprechend gefördert wird, wird der Körperbau noch betont. Fehlt die Veranlagung, werde ich mit dem besten Training keinen „Schwimmerkörper“ bekommen (chirurgische Optionen einmal ausgenommen).
Genauso ist es mit dem Thema Bekehren. Ist die Veranlagung nicht gegeben, kann keine Bekehrung stattfinden. Eine interessierte Neugier oder Experimentierphase sind etwas anderes, als uns „Freier Fall“, „Brokeback Mountain“ oder Christian und Olli zeigen. Alle drei Beispiel zeigen uns die entstehende Beziehung zwischen den Männern, in der Sexualität nur ein Aspekt von mehreren ist. Vielleicht fehlte den „bekehrten“ Ex-Heteros vorher der Mut, die Freiheit, die Erkenntnis, das auslösende Moment, eine solche Option für sich in Betracht zu ziehen. Ein Hetero-Leben ist nun mal der „default“-Wert für viele Lebensentwürfe (im realen und medialen Leben), sofern keine deutlichen Zeichen dagegensprechen.
Der Schwule an sich bekehrt nicht. Er zeigt nur Optionen, die der andere nutzen kann – oder verwerfen. Wie Kevin Kelly betont, ist die steigende Menge an Wahlmöglichkeiten ein Zeichen von Fortschritt bzw. gesellschaftlicher Verbesserung (er bezog es zwar auf Technologie, aber grundsätzlich stimmt der Gedanke auch in anderen Gebieten).
In allen drei genannten Fällen ergreift der Schwule die Initiative: Olli hat sich in Christian verknallt, will mehr sein als ein guter Freund und sucht offensiv Christians Nähe, Jake Twist (Jake Gyllenhaal) verführt Ennis in der Einsamkeit der Berge, Kay (Max Riemelt) küsst ziemlich aufdringlich Marc bei einer Joggingpause. Vielleicht funktioniert bei allen dreien das berüchtigte „Gaydar“ (schwule Radar), vielleicht gehen sie auch einfach impulsiv auf Risiko (was haben sie zu verlieren – der Gewinn wäre jedenfalls größer), oder sie testen den anderen (ein häufiges soziales Verhalten: Grenzen austesten). Was wir von allen drei Bekehrern nicht wissen: Wie oft sie mit solchen Aktionen gegen die Wand gefahren sind, wie sie bei einer Ablehnung ihr Leben gestaltet hätten, oder wie sie den anderen weniger direkt für sich hätten gewinnen können. Manchmal muss eine Wahrheit kurz schmerzen, um etwas zu bewirken.
Verknallte Schwule
Interessant und verlockend ist immer das, was man nicht haben kann. Das wissen auch Frauen, die in Schwulenbars auf Beutefang gehen (ja, sowas gibt’s – hätte ich auch nicht gedacht). Und seien wir ehrlich: Zac Efron, David Beckham, Brad Pitt und zahllose andere Männer sind zwar hetero, dennoch aber durchaus attraktiv. Man könnte auch sagen: sexy. Die alljährliche „Top 100“ der US-Website Afterelton.com (nun Backlot.com) bestätigt es: Schwule Männer finden jede Menge Heteros „hot“. Auch Heteros, die nie eine schwule Rolle gespielt haben. Die einfach nur gut aussehen und gelegentlich etwas Kluges oder Vernünftiges sagen. Das ist ein wenig wie die Schülerinnen, die für ihre Lehrer schwärmen – unerreichbar, und gerade deshalb anbetungswürdig.
In den meisten Fällen ist dies völlig folgenlos. Man(n) ergötzt sich am guten Aussehen, der Attraktivität des anderen, genießt die Nähe des anderen (oder sucht sie), ergibt sich vielleicht der einen oder anderen erotischen Fantasie. Das gehört dazu. Dazu gehört auch ein gelegentliches flirtendes Verhalten, um die Grenzen auszutesten oder abzustecken oder die Unerfüllbarkeit zu bestätigen (sich und dem anderen). Psychologisch kommen so viele verschiedene Aspekte zum Tragen, dass es nicht die eine Erklärung gibt.
Menschliches Tun, Fühlen und Reden ist komplex, und wenn Wünsche und Sehnsüchte hinzukommen, noch komplexer. Sind die Wünsche und Sehnsüchte unerfüllbar oder erscheinen unerfüllbar, steigt die Komplexität weiter. Da lässt sich schwer verallgemeinern. Deshalb ist „Freier Fall“ so angenehm. Er liefert gar keine Erklärung für das Verhalten von Kay und Marc, sondern lässt die Figuren einfach agieren. Gründe und Hintergründe und Motive und Erklärungen kann jeder Zuschauer und jede Zuschauerin für sich selbst entdecken, in den Blicken, Gesten, den Zeilen zwischen den Dialogen.
Ärgerlich ist nur, dass sowohl Olli als auch Kay von „Liebe“ sprechen. Das laste ich allerdings mehr dem Drehbuch als den Figuren an (ja, ich kann selektiv sein ;-). Verknallt sein, verschossen sein, verliebt sein – das wären jedenfalls treffendere Beschreibungen.
Mediale Männerliebe
In einer Welt, die dem Macho-Ideal abschwört, dürfen Männer zu ihren Gefühlen stehen, darüber sprechen und sie ausleben. Sie sind nicht mehr verpflichtet, einem abstrakten Männer-Ideal zu entsprechen, sondern dürfen sie selbst sein. Doch wieso schaffen es drei Geschichten von bekehrten Ex-Heteros, das Interesse von Film- und Fernsehzuschauern zu wecken? Dafür gibt es mehrere Erklärungsansätze.
Erfüllung eines Traums
Vermutung: Frauen mögen es auch, einmal zärtliche Männer mit ihren Gefühlen zu sehen. Warum sollen emotional verwirrte oder unentschlossene Rollen immer von Frauen gefüllt werden?
Schwule sind eine wichtige Zielgruppe. So wird zumindest medial ihr Traum erfüllt. Weniger zynisch gilt ganz allgemein: Film und Fernsehen sind Traumerfüllungsmaschinen.
Wir möchten unsere Träume ausleben, wenigstens stellvertretend ausgelebt sehen. Und wenn es nicht die eigenen Träume sind, so möchten wir doch mindestens Anregungen für eigene Träume und Fragen erhalten (jedenfalls von guten Filmen).
Wir möchten Happy Ends genießen, wir möchten schöne Menschen sehen, wir möchten etwas Aufregendes erleben. Vielleicht möchten wir auch unseren Horizont erweitern, neue Gefühlswelten erkunden, Anregungen erhalten oder dem Alltag entfliehen. Jedenfalls möchten wir nicht unbedingt unseren eigenen Alltag auf der Leinwand sehen.
Deshalb verdichten Filme ja auch, erzählen das Besondere (s.u.), dramatisieren oder spitzen zu. Damit tragen sie nicht unerheblich zu unserer eigenen Identitätsbildung und Entwicklung von emotionaler und sozialer Kompetenz bei. Im Gegensatz zum realen Leben haben Filme immer ein Ende – genauso wie bei einem guten Traum soll es ein befriedigendes Ende sein, kein Mittendrin-Aufwachen.
Träume sind gefährlich. Besonders wenn sie wahrwerden. Insofern ist Kino auch immer ein „Was wäre wenn“ ohne Gefahr für das eigene Wohlergehen.
Bei „Brokeback Mountain“, Christian und Olli und „Freier Fall“ muss man auch erwähnen, dass die Chemie zwischen den Darstellern jeweils stimmt, die Traum-Illusion also nicht gebrochen wird. In allen drei Fällen geht es nicht um eine einzelne Figur, sondern um das Miteinander beider Figuren. Das zielt direkt auf die ewige Frage nach dem Miteinander in der realen Welt. Sex ist nur eine Möglichkeit von vielen, dieses Miteinander auszudrücken (sowohl im Film als auch in der realen Welt). Damit sind wir bei dem Traum von Harmonie und Verständnis und Füreinander-Dasein zweier Menschen gegen alle Widrigkeiten und zuerst gegen die Zweifel einer der beiden Figuren. Auf struktureller Ebene handelt es sich um ein Pendant zu den Liebesromanen, in denen eine junge mittellose Frau sich gegen die Avancen eines reichen Schnösels wehrt, um diesen irgendwann doch einmal zu erliegen – nachdem sie erkannt hat, dass er eigentlich doch ein ganz Guter ist.
Der ewige Traum von der Liebe, die sich erst bewähren muss, von der Liebe, die da auftaucht, wo man sie nicht erwartet.
Abbild der Welt
Die Welt ist voller Geschichten über Spät-Entdecker ihrer eigenen Sexualität. Die Realität spiegelt sich in Drehbüchern und Filmen wider; eine autobiografische Aufarbeitung zu unterstellen, ginge jedoch meist zu weit.
Letztlich geht es gar nicht um Hetero- oder Homosexualität, sondern um die Liebe zu einem anderen Menschen oder das Begehren nach einem anderen Menschen (der zufällig auch ein Mann ist). Ziemlich sicher existieren auf der Skala zwischen „Homo“ und „Hetero“ viele Zwischentöne. Noch sicherer wechseln viele Menschen im Laufe ihres Lebens ihre Lebensentwürfe. Weder soziales noch biologisches noch präferiertes Geschlecht müssen stets synchron sein. Da ist vieles im Laufe einer Biografie im Fluss, und zwischen den Extremen existieren zahllose Abstufungen, die in verschiedenen Lebensphasen unterschiedlich stark wirken können.
Es ist oft für die eigene emotionale Reifung hilfreich, Stellvertreter-Konflikte in Film und Fernsehen mitzuerleben. Nicht weil man deren Strategien für sich übernehmen möchte, sondern weil man neue Aspekte der Konfliktlösung für die vielfältigen potenziellen Konflikte im eigenen Leben lernt. Weil man etwas über Menschen und deren Umgang miteinander lernt. Jedenfalls, wenn der Film glaubwürdig ist.
Liebe ist eines der ältesten Konzepte, denen wir ausgesetzt sind. Da kann es spannend, unterhaltsam, interessant, nützlich sein, die Konsequenzen des Auslebens im Guten wie im Schlechten sowie die Wirkung auf die Figuren und deren Umgang damit zu verfolgen. Dümmer wird man bei guten Filmen jedenfalls nicht.
Das Besondere
Einfach nur „Mann trifft und heiratet Frau“-Geschichten gibt es zuhauf in Kino und Fernsehen. Etwas Abwechslung tut da gut. Quasi als Kontrastprogramm oder Erweiterung der erzählerischen Palette.
Auch Geschichten über schwule Männer, die sich ihrer Sexualität bereits bewusst sind, gibt es jede Menge. Interessant sind jedoch – jedenfalls in der kondensierten Film- oder Fernsehversion – die Geschichten, die nicht ganz so alltäglich sind. In der eine Figur über sich selbst hinauswachsen muss (Entwicklung), Widrigkeiten überwinden muss („Kampf“, Stärkung) oder sich in einer neuen Situation bewähren muss (Anpassung). Im Alltag erleben wir das ständig, erkennen es oft jedoch erst im Rückblick, weil die Zeitspanne so lang ist. Da kann ein Film schön komprimieren und auf die wichtigsten Aspekte fokussieren. Denn im Alltag fehlt uns der Fokus, so viel passiert mit uns und um uns herum. Da gibt es selten den einen stringenten Strang, den man sofort erkennt – und wenn doch, lassen sich dessen Auswirkungen (in ein, drei, zehn Jahren) nicht erblicken.
Bei einer solchen Betrachtung gelangt man schnell zu Allgemeinplätzen über Filme. Dass das Zuschauerwissen um die Dauer des Films die Seherfahrung mitprägt, eben weil der Film nur einen Ausschnitt zwischen Vorspann und Abspann zeigt und kein Leben davor und danach. Dass Filme auf mehreren Ebenen funktionieren, nämlich auf der Plot-Ebene und den subtilen Andeutungen und Anregungen darunter, die oft viel nachhaltiger in uns weiterschwingen als der Plot (warum sonst hätten Barbra-Streisand-Filme ohne jede schwule Thematik ein so großes schwules Publikum gefunden – weil sie unterschwellig die Geschichte vom verkannten Schwan erzählten, der am Ende sein Glück findet). Dass Filme vom Weglassen und Fokussieren leben und mit Zeichen, Symbolen und Hinweisen arbeiten, die mitunter stärker als jede Dialogzeile wirken können. Dass Filme einen Pakt mit dem Zuschauer über die Dauer von anderthalb Stunden schließen: „Ich zeige dir etwas, und du glaubst mir einfach.“ Dass Filme so lange als realistische Darstellung wahrgenommen werden, solange nichts erkennbar und eindeutig dagegenspricht.
Muss man sich das ansehen?
Filmisch ist „Freier Fall“ sehr gelungen. Herrlich un-hollywoodig. Nüchtern, ruhig, realistische Figuren und karge Dialoge. Angenehm direkt, unspektakulär und nicht überdramatisierend über Bilder, Blicke, Gesten und zwischen den Zeilen erzählt. Auch die Schauspieler wirken natürlich. Keine Adonisse, aber gut anzuschauen. Gerade die Duschszenen zeigen den großen Unterschied zu Hollywood: kein alles verklärendes Ganzkörper-Make-up, sondern natürliche Körper, wie man sie in jeder Sportclub- oder Schwimmbaddusche sieht. Inklusive irrelevanter Full frontal nudity. Sowas ist kein Kriterium für einen guten Film. Es fällt nur auf, wenn man feststellt, wie sehr sich US-Produktionen darum herumdrücken und tricksen (wobei das in letzter Zeit auch etwas nachgelassen hat).
Der menschliche Körper muss nicht versteckt, beschönigt oder verklärt werden. Wir alle haben einen und wissen etwas damit anzustellen, und das hat mitunter Auswirkungen auf unsere Identität, auf unser Selbstverständnis, auf unser Denken und Fühlen.
Eine (mediale) Welt, die den Körper einerseits stets zelebriert und andererseits ständig versteckt, kann nur schizophren wirken. Das ist sie auch. Fast nackte Menschen auf Plakaten. Strafende Blicke, wenn ein kleines Mädchen nackt im elterlichen Pool planscht. Leichtverfügbare Pornografie für jedes Interessengebiet. Irritation bei versehentlicher Körperberührung oder einer Bemerkung über den Körper. Detailverliebte Präsentation des Körpers als etwas Besonderes in Filmen. Kritik an Kindern, die ihren betasten. Aufreizende Dekolletés allerorten. Verklärende Sprache bei Aufklärung. Kinderpornoverdacht. Perverse überall (so scheint es). Unschuldige Kinder, die ihren Körper nicht erfahren, erleben, austesten dürfen. Kinderstars in Outfits, für die Madonna vor 30 Jahren Kritik geerntet hätte. Strafe für sexuelles Experimentieren, gemeinsames Körper-Erleben. Schiefe Blicke vom Textil-Strand zum FKK, abschätzende Blicke in Umkleideräumen. Sprechen über Sex ist entweder anzüglich, auf Stammtischniveau oder überwissenschaftlich und hyper-political-correct. Sind mehr so allgemeine Beobachtungen als jetzt konkrete Anschuldigungen.
Je mehr man sich damit beschäftigt, desto stärker wird die Frage, wie heutige Kinder und junge Menschen mit einem gesunden Verhältnis zu ihrem Körper aufwachsen können. Wie sie später eine für sie befriedigende Sexualität erfahren können. Wie es ihnen gelingen soll, zu erkennen und zu wissen, was sie tatsächlich von und mit ihrem Körper erleben wollen.
Manchmal benötigt es dann einfach einen Schwulen (ob nun real oder im Kino), der allein durch seine Existenz zeigt, dass es zahlreiche Optionen und Lebensentwürfe mehr gibt, als Schwarz-Weiß-Denken von Kirche und heteronormativer Liebesromankultur erkennen lassen.
Als Großstadtmensch vergisst man leicht, dass bestimmte Selbstverständlichkeiten nicht überall gelten. Insofern spielt „Freier Fall“ konsequenterweise nicht in Berlin oder Köln, sondern in einer mittelgroßen Stadt.
Abschließend noch die schöne Zusammenfassung zum Film aus dem PR-Material (dies ist einer der wenigen Fälle, wo es sich lohnt, daraus zu zitieren): „,Freier Fall‘ ist junges, kraftvolles Kino aus Deutschland. Ohne zu werten oder seine Figuren zu verurteilen, erzählt Stephan Lacant in seinem ersten Spielfilm das Drama eines Mannes, der aus seiner überschaubaren Welt fällt. Die fulminanten schauspielerischen Leistungen von Hanno Koffler, Max Riemelt und Katharina Schüttler vermitteln auf emotionale Weise, was es heißt, wenn Lebensentwürfe zu Bruch gehen und es keinen Weg mehr gibt, den Menschen, die man liebt, gerecht zu werden.“ Oh, ja!
Disclaimer
Nein, ich bin kein Verfechter des „Man muss alles mal probieren“. Nein, ich finde „Heten-Bekehren“ keine Option für die Realität. Aber so wie die Film- und TV-Figuren angelegt sind, geht es eben nicht ums Bekehren (s.o.). Alle drei Beispiele zeigen Ausnahmesituationen, in denen sich die Dynamik zwischen den Figuren so entwickelt, wie sie es tut.
Dass es Fälle von Verführungsversuchen oder Ärgerem in der Realität gibt, sagt nichts über die statistische Relevanz aus. Denn alle Fälle von (kurzen) Schmachtphasen, unerfüllten Sehnsüchten und Träumen werden nicht mitgezählt. Und jede Argumentation muss berücksichtigen, dass zwei Menschen beteiligt sind; auch wenn einer die Initiative ergreift, bleiben doch letztlich beide in ihrem Streben nach Glückserfüllung und Unversehrtheit gleichberechtigt. Das Ideal der „Consenting Adults“ kann jedenfalls nicht ausgehebelt werden.
Ach, dieses ganze Thema Sexualität ist insgesamt so vermint und gefährlich, dass man gar keine Chance hat, ohne blaues Auge da herauszukommen. Jeder hat seine eigenen Vorstellungen davon, was gut und gewünscht, und was nicht zustimmungsfähig ist. Da gibt es keine absoluten Regeln, sondern nicht gestattet ist, „was mindestens einem Beteiligten missfällt“. In den filmischen Beispielen jedenfalls reifen die Figuren an den Situationen und finden sich selbst und Zeiten großen Glücks.
Insofern bleibt das Klischee von der „bekehrten Hete“ ein schwuler Traum (falls es denn überhaupt tatsächlich einer ist).