Das iPad ist kein Computer

Immer wieder wird behauptet, das iPad könne recht wenig und würde zum rein passiven Medienkonsum verführen. Diese Argumente gehen am Thema vorbei.

Das Ding ist mehr als seine Technik

Zunächst ist festzustellen: Das iPad ist kein Computer. Es verfügt zwar über die selben Komponenten (Display, Prozessor, Speicher, Eingabemöglichkeiten, Netzwerkverbindung) wie ein Computer. Aber es ist genausowenig ein Computer wie ein Smartphone oder ein Taschenrechner oder der Kühlschrank der Zukunft oder meine Waschmaschine. Was ein Computer ist, definiert sich vernünftigerweise nicht nur von Aufbau und Funktionsprinzip, sondern auch am Ziel, Zweck und Nutzen des zu klassifizierenden Geräts.

Bereits die Displaygröße (1024 x 768 Bildpunkte) lässt es als wenig geeignet für photoshop-basierte Bildbearbeitung erscheinen. Aufgrund der fehlendenen Tastatur eignet es sich auch nicht für Textverarbeitung. Auch käme niemand auf die Idee, dass das iPad für Buchhaltung vorgesehen ist.

Auch Netbooks eignen sich aufgrund der kleinen Bildschirme und der oftmals kleinen Tastatur für Bild- und Textbearbeitung weniger als jeder normal große Laptop oder PC. Aber beide Einsatzgebiete sind auch nicht das Ziel des Gerätes, wie man ihm auf Anhieb ansehen kann. Das Argument liegt auf dem gleichen Niveau wie „der Smart oder VW Polo eignet sich nicht, um eine Schrankwand zu transportieren“.

Was beim Smart selbstverständlich und selbsterklärend ist, wird beim iPad stets mit dem Unterton des Mangels präsentiert. Smart, Lkw und Traktor bestehen alle aus den selben Grundbausteinen: Räder, Motor, Steuerung durch den Menschen. Keiner muss erläutern, dass ein Traktor als Stadtfahrzeug wenig geeignet ist und dass der Smart nicht als Umzugsfahrzeug taugt.

Wer etwas zum iPad sagen will, sollte nichts sagen, was sowieso bekannt ist. Übrigens: Der Himmel ist blau, und Regen neigt dazu, von oben nach unten zu fallen.

Mehr Kontrolle über Medienmix

Das iPad ist kulturhistorisch ein Zwitter. Es geht quasi einen Schritt zurück. Niemand beschwert sich, dass große Verlage oft nach obskuren Kriterien entscheiden, welche Bücher sie veröffentlichen. Niemand beschwert sich, dass Radio- und TV-Sender mitunter in ihrer Porgrammzusammenstellung recht eigenwillige Entscheidungen treffen. In beiden Fällen ist keine Feedbackfunktion auf Augenhöhe vorgesehen. Das iPad (und seine Infrastruktur mit iTunes, AppStore und Apple als verwaltender Instanz) ist im Vergleich zu den alten Medien Buch, Zeitschrift und TV/Rundfunk geradezu eine Revolution.

Denn das iPad ermöglicht wesentlich mehr Medien auf einmal. Die logistischen und finanziellen Anforderungen an „Verleger“ oder „Sender“ sind so gering, dass jeder veröffentlichen kann. Mittels Kommentar- und anderen Funktionen ist dabei sogar ein Feedback fast auf Augenhöhe möglich. Der Nutzer entscheidet selbst, wie und wozu er ein iPad benutzt. Im Gegensatz zu einem Buch kann es nicht nur Text seitenweise anzeigen. Im Gegensatz zu einem Radio oder einer Schallplatte/Kassettte/CD kann es Musik nicht nur in einer vorgegebenen Reihenfolge abspielen.

Das Ziel des iPad liegt genau darin: Dem Nutzer die größtmögliche Kontrolle über seine verschiedenen Medien zu geben und einen möglichst aufwandsarmen Zugriff auf alle anzubieten. Wem die eigenen Medien nicht genügen – das Internet ist nur einen Fingertipp entfernt. Sämtliche Inhalte sind erreichbar.

Wer sich über das Fehlen von Flash beschwert, zeige mir ein mobiles Gerät, auf dem Flash gut läuft. Ob es sich dann über Touch auch gut bedienen lässt, ist eine weitere Frage, denn Flash unterscheidet zwischen Zeigen und Klicken, im Gegensatz zu einem Touch-Gerät, das nur das Klicken/Tippen/Touchen kennt.

iPad (Apple)

Das iPad verführt nicht stärker zum passiven Medienkonsum als ein Buch, eine DVD oder CD. Es gibt dem Nutzer aber beim Konsum mehr Kontroll- und Einflussmöglichkeiten. Es ist möglich, die klassische Nutzung (Lesen, Schauen, Hören) mit modernen Möglichkeiten (Kommentieren, Feedback, „Web 2.0“) zu kombinieren. Das iPad ist quasi „Buch 2.0“, „DVD 2.0“ und „CD 2.0“.

Wer mehr tun möchte, kann seinen PC starten.

„Nur“ Evolution

Natürlich ist das iPad keine Revolution. Hat schon mal jemand versucht, dem normalen Menschen eine Revolution zu verkaufen? Das iPad ist technisch clevere Evolution und kombiniert zwei bisher disparate Lebensfelder: passiver Medienkonsum der „alten Medien“ mit gleichzeitigem Zugriff auf moderne Medien – in einer Form/Erscheinung, die sich gut in den Lebensalltag auch des Nicht-Technik-Affinen einfügt.

Das größte Problem ist Apple als Kontrollinstanz. Auch ich wünsche mir hier ein Stufenmodell, das Inhalte eben nicht pauschal verweigert, sondern eben nur zu bestimmten Bedingungen zugänglich macht (beispielsweise Altersverifikation). Die technische Kontrolle über die iPad-Plattform dagegen befürworte ich. Denn ich möchte meine Daten sicher wissen und keinen Virenscanner auf einem Mobilgerät installieren müssen.

Dass mir dabei beispielsweise kein anderer Browser als Safari erlaubt wird, ist kein wirkliches Manko. Denn im Alltag benutze ich auch nur einen Browser – und zwar den, der sich am effektivsten in meine Arbeitsweise bzw. PC-Arbeit integrieren lässt. Wenn irgendetwas auf dem iPad nicht funktioniert, wird der normale Nutzer nicht überlegen, welche App ihm Probleme bereietet, sondern das Gesamtgerät verantwortlich machen. Der normale Nutzer ist kein Power-User, er kennt sich nicht mit .plist- oder Registry-Dateien aus.

Der wichtigste Aspekt ist und bleibt aber doch folgender. Da wir nicht in einer Diktatur leben, kann jeder für sich frei entscheiden, ob er oder sie überhaupt ein iPad kaufen möchte.

Historische Lektion

Ob sich Apple auch bei Tablet-Geräten in ein paar Jahren in eine Marktnische zurückziehen muss, wie es bei grafisch bedienbaren Computern ab Mitte der 1980er der Fall war, ist abzuwarten. Wie mit dem Macintosh 1984 beweist Apple mit dem iPad aber, dass moderne Technik:

  • gut aussehen kann,
  • den vorgesehenen Zweck gut erfüllen kann,
  • das Gerät völlig anders ist als alle anderen und damit eine neue Geräteklasse definiert,
  • nicht so teuer ist, wie man vermuten würde.

Daher kann das iPad eben nicht direkt mit Konkurrenzangeboten verglichen werden. Es gibt keine wirklichen Konkurrenzangebote. Jedenfalls habe ich in keinem Berliner Geschäft bislang etwas Vergleichbares gesehen. Vielmehr gibt es jeden zweiten Tag vollmundige Ankündigungen für „Me too“-Geräte. Keines davon funktioniert bislang tatsächlich oder stellt ein hard- und softwaremäßig tatsächlich ebenbürtiges Angebot zu einem günstigeren Preis dar.

[UPDATE, 18. Februar 2011: Das Motorola Xoom soll anderhalb Jahre nach dem iPad endlich erscheinen. Obwohl Motorola deutlich geringere Software-Investitionen tätigen musste – es verwendet eben nicht wie Apple ein eigenes System, sondern das von Google kostenlos nutzbare Android 3.0 – kostet das Einstiegsmodell 600 Dollar, berichtet ArsTechnica. Offenbar ist das iPad also kein so hochpreisiges Gerät, wenn der direkte Konkurrent sein Modell zum fast gleichen Preis anbieten muss …]

Keiner weiß, wie der Markt in drei, fünf oder zehn Jahren aussieht. Vielleicht ist bis dahin sogar Flash kein ressourcenhungriges, sicherheitslückenreißendes Nervelement mehr. Vielleicht kann das Windows Phone dann tatsächlich das, was Microsoft vor zwei Jahren für die Vorversion versprochen hat. Vielleicht ist Android dann dem iPhone tatsächlich voraus und hechelt nicht mehr nur hinterher.

Es sollte ein Gesetz geben, dass „Me too“-Gerätehersteller verpflichtet, einen Aufkleber mit dem Namen des Originalproduktes auf die Verpackung zu drucken.

Ein Platz in einer divergenten Welt

Nachdem der Computer inzwischen sämtliche Medien in sich vereint und gleichermaßen Arbeits- wie Unterhaltungsmaschine geworden ist, werden jetzt die Geräte wieder divergenter. Ich möchte auf meinem Computer nicht unbedingt fernsehen, es ist schön, dass ich es kann, aber am liebsten schaue ich fern auf meinem Fernseher. Ich möchte nicht immer meinen Computer mit mir herumtragen, nur um Musik abspielen zu können. Ich möchte auch keine langen Romane auf meinem Computerbildschirm lesen – aber schreiben möchte ich sie auf keinem anderen Gerät :-)

Ich möchte vielleicht sogar meine private eMail-Korrespondenz nicht auf meinem Computer erledigen müssen, sondern vielleicht auf einem Gerät, das ich auf der Couch lümmelnd gemütlich im Schoß liegen habe. Wenn ich in der Küche sitze und mir einfällt, dass ich eine Information im Internet nachschlagen möchte, will ich nicht unbedingt meinen Computer hochfahren oder auf dem kleinen iPhone-Bildschirm surfen.

Das iPad dagegen ist groß genug, um leicht bedienbar zu sein. Es ist klein genug, um mobil zu sein. Es ist beschränkt genug, um seinen Zweck erkennbar werden zu lassen. Es ist vielseitig genug, um mehr zu können als im ersten Moment ersichtlich.

Update (02. August 2010)

Offenbar sind die oben genannten Schlussfolgerungen bereits in der Praxis angekommen: Stanfords Medizin-Studenten lernen mit dem iPad.

Update: Eine Fortsetzung des Gedanken

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

3 Kommentare

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