Steven Johnson: Future Perfect

Steven Johnson ist  von der Westküste an die Ostküste der USA gezogen: nach Marin County in Kalifornien. Das ist nur deshalb bemerkenswert, weil der m.E. wichtigste US-Autor des 20. Jahrhunderts ebenfalls in Marin County gelebt hat, Philip K. Dick. Dick hat in seinen erfolglosen Romanen, die alle erst posthum veröffentlich wurden, ein realistisch-dokumentarisches Bild der Gegend in den 1950er und 1960er Jahren gezeichnet. Wesentlich erfolgreicher war er mit seinen fantastischen Kurzgeschichten und Romanen (wie Ubik, Blade Runner, Das Orakel vom Berge). Steven Johnson hat mit „The Ghost Map“ und „The Invention of Air“ ebenfalls realistische – historische, fast im Geiste des „New Historicism“ – Erzählungen vorgelegt.

Und nun das: Steven Johnson entpuppt sich als Agitator und Weltverbesserer! Er entwickelt eine Art Utopie und sieht viele Anzeichen für eine Verbesserung des Allgemeinzustandes der Welt. Damit befindet er sich in guter Gesellschaft, denn bereits Oscar Wilde stellte fest:

A map of the world that does not include Utopia is not worth even glancing at, for it leaves out the one country at which Humanity is always landing. And when Humanity lands there, it looks out, and, seeing a better country, sets sail. Progress is the realisation of Utopias.

Im Vorwort stellt Johnson bereits klar, dass er die Welt besser sieht, als sie zumeist wahrgenommen wird. Denn viele Verbesserungen finden im Kleinen und Leisen statt und schaffen es nicht auf die Titelseiten oder in die Nachrichten. Ein kurzer historischer Exkurs führt uns anhand der Eisenbahnlinien in Deutschland und Frankreich vor Augen, wie zentralistische (Frankreich: zentral von Paris ausgehend) und organische Systeme (Deutschland: viele lokale Einzellinien) funktionieren. Beide Systeme haben Vor- und Nachteile. So landen wir mitten in der Frage, wie werden Entscheidungen getroffen: von oben nach unten (Top-down), von unten nach oben (Bottom-up) oder ganz anders?

Egalitäre Strukturen

Das Internet bietet mit seiner egalitären Struktur eine gute Analogie: Es ist eine dezentrale unkoordinierte Verknüpfung zahlreicher Einzelpunkte ohne „Mastermind“ oder Chef-Schalter. Alle Punkte in diesem Netzwerk sind gleichwertig und können einander ersetzen, wenn einer ausfällt. Gerade diese egalitäre Struktur, die auf Machtstrukturen in der äußeren Welt keine Rücksicht nimmt, ermöglicht Informationsaustausch und nivelliert die Unterschiede zwischen Sender und Empfänger aller bisherigen Medien. Deshalb ist aus Perspektive der alten Medien und Machtinhaber das Internet auch bedrohlich. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist es ein Gewinn, wie Johnson anhand verschiedener Bereiche aufzeigt.

Kickstarter ermöglicht es, für künstlerische oder innovative Projekte Geldgeber zu finden. Die Behörden-Service-Nummer 311 in New York verringert die Machtgefälle zwischen Bürgern und Behörden – zum beiderseitigen Vorteil. „Orçamento participativo“ (participatory budgeting, [Bürger-]Beteiligung an Haushaltsplanung) verbesserte die Lebensbedingungen in der brasilianischen Stadt Porto Alegre binnen weniger Jahre, indem die Bürger auf lokaler Ebene festlegten, welche Bereiche dringend angegangen werden müssen – das Geld kam „von oben“, über die Verteilung und Verwendung wurde vor Ort entschieden; auch Korroption und Misswirtschaft wurden so deutlich eingedämmt. Unternehmen wie Whole Foods, die eine flache Hierarchie haben und neben Profitmaximierung andere Werte aktiv pflegen, haben ein stärkeres Börsenwachstum vorgelegt als klassisch hierarchisch organisierte Firmen.

Peer-Netzwerke

All das ist durch sogenannte „Peer Networks“ möglich. Viele Beispiele benötigen gar kein Internet oder moderne Technik, sondern benutzen „nur“ die gleiche Logik wie das Internet, jedoch für das direkte zwischenmenschliche bzw. Vor-Ort-Verhalten. Damit ist Johnson wieder ganz dicht bei Dick, dessen selbst fantastischsten Romane stets von realistischen Figurenzeichnungen und lebendigen Charakteren leben. Egal wie toll eine Technologie – ob erfunden oder real – ist, erst in der Akzeptanz und Anwendung durch die Menschen zeigt sich ihr Wert. In vielen Fällen ist auch kaum Technologie nötig, sondern es kommt darauf an, wie sich das Leben der Menschen verändert, ob sie eine Veränderung zulassen oder sich sträuben.

Menschen können durch „Incentives“ motiviert werden. Dabei handelt es sich zum großen Teil um geldfreie Anerkennung. Für die Beteiligung an einem Kickstarter-Projekt erhält man vielleicht eine signierte Kopie, dennoch geben viele Menschen mehr Geld aus als rein ökonomisch gesehen angemessen wäre. Sie sind neugierig auf das Ergebnis, möchten altruistisch jemandem unterstützen, oder sie möchten einfach einen kleinen Beitrag zu einem Fortschritt in technischer oder künstlerischer Hinsicht leisten. Das Internet ermöglicht die einfache Verbindung all dieser Einzelpersonen, sodass durch die Masse relevante Geldbeträge zusammenkommen und Künstler, Entwickler, Weiterdenker nicht auf Sponsoren, Einzelförderer oder reiche Kontakte angewiesen sind.

An diesem Beispiel zeigt sich eines der Wesensmerkmale von Peers: Alle Peers sind gleich, keiner wird bevorzugt, und keiner wird benachteiligt. Alle Kickstarter-Projekte haben das gleiche Recht auf Umsetzung. Erst durch die Geldverteilung findet eine Selektion statt, sodass etwa die Hälfte der Projekte auch umgesetzt werden können. Kickstarter behandelt auch alle potenziellen Investoren gleich. Hier werden also zwei egalitäre Peer-Netzwerke direkt miteinander kombiniert und dadurch neue Möglichkeiten eröffnet.

Gleiches wünscht sich beispielsweise auch Lawrence Lessig für die Parteienspenden. Aufgrund der Abhängigkeit von Großspenden sind viele Politiker befangen, so gibt es 16 Gesetzesänderungen zum Thema Urheberrecht, aber keine einzige zum Thema Klimaschutz. Würde hier ein Peer-Netzwerk verpflichtend eingeführt (jeder widmet 50 Steuer-Dollar einem Kandidaten oder einer Partei; nicht festgelegte 50 Steuer-Dollar werden in demokratische Verfahren wie Wahlen investiert), so würde die Politik wieder menschlicher werden und nicht mehr Klientel-Politik betreiben. Würden parallel auf lokaler Ebene Peer-Netzwerke genutzt, so würde aufgrund der konkreten und spürbaren Partizipation die Politikverdrossenheit sinken.

Etwas fehlt

Doch hier klafft in Johnsons Buch eine große Lücke. Es fehlt das theoretische Rüstzeug. Peers werden nirgendwo definiert, man kann sich allenfalls aus seinem Buch „Emergence“ von 2001 vieles zusammenreimen, beispielsweise die Gleichwertigkeit der Peers, die Notwendigkeit von Feedback, die nötige/kritische Masse. Aber es findet sich kein Vorschlag für ein Framework, wie Behörden/Regierungen und Bürger vor Ort miteinander agieren, wo also zentralistische Aspekte (wie Klimaschutz) und Peer-Notwendigkeit (Bauarbeiten in einem Stadtteil) miteinander in Einklang gebracht werden. Johnson führt vielmehr „nur“ zahlreiche Beispiele für gelungene Ansätze auf.

Incentives funktionieren in Johnson Argumentation wie vorgelagertes Feedback: Ein Peer-Netzwerk entdeckt einen Mangel und lobt eine Belohnung gegenüber einem größeren Peer-Netzwerk aus, wenn der Mangel beseitigt ist. Auch hier werden zwei Peer-Netzwerke miteinander kombiniert. Doch die theoretische Auseinandersetzung findet nicht statt. Ebenso wird die ausführliche Schilderung zum Thema Flugzeugsicherheit im Vorwort vom restlichen Buch nicht reflektiert, ein direkter Zusammenhang zu Peer-Netzwerken erschließt sich auch im Nachhinein nicht. Die schöne Beobachtung „Diversity trumps Ability“ (Verschiedenheit schlägt Fähigkeit), die ein wesentliches Kennzeichen von Peer-Netzwerken ist – denn alle Peers sind zwar gleichwertig, aber eben doch unterschiedlich begabt – bleibt anekdotisch. An dieser Stelle bin ich selbst ein wenig überrascht, denn ein Verriss von einem Steven-Johnson-Buch? Von mir?

Fazit

Um es kurz zu machen: Es ist ein lesenswertes Buch voller Anregungen und intellektueller Stimulanz. Die Ausgewogenheit und langfristige Gültigkeit verdient es jedoch im Vergleich zu Johnsons anderen Büchern nicht („Where Good Ideas Come From“ war dagegen ein Meisterwerk, ebenso wie „Ghost Map“). Vielmehr wirkt es wie ein überlanges Editorial, wie eine vorsichtige Kampfschrift oder ein enthusiastischer Essay. Damit verrät das Buch mehr über den Blick des Autors auf die Welt als über die Welt. Auch wenn man gern seinem Enthusiasmus folgen möchte.

Es bleibt ein fader Nachgeschmack, man bleibt enttäuscht zurück. So wie bei Philip K. Dicks „Irrgarten des Todes“, wo alles nur eine gemeinsame Halluzination war. Das mindert letztlich den gesamten Roman inklusive seiner interessanten theologischen Entwürfe. So auch hier: Ja, das sind alles sehr schöne Beispiele, aber in welchen Frameworks finden sie statt, welche Weiterentwicklung oder Konsequenz ergibt sich daraus, wie kann der Weg von der Ist-Welt zu einer Soll-Welt mit Peer-Netzwerken auf allen Ebenen aussehen? Wie kann überhaupt eine solche Welt aussehen, an welchen Stellen sind Peer-Netzwerke wirklich sinnvoll (auch bereits erprobt), und wo sollte eher Vorsicht geübt werden? Was bedeuten Peer-Netzwerke für unser Demokratie-Verständnis?

So wie die Peer-Netzwerke stets schwer greifbar sind, da sie eben keine schillernde Gallionsfigur haben, sondern meist erst retrospektiv und in ihrem Wirken erkannt werden können, so bleibt auch Johnson schwer greifbar. Er eckt mit seinem Buch nirgends wirklich an, stellt nichts radikal infrage bzw. nicht radikal/deutlich genug. Etwas mehr Dicksche Träumerei hätte ihm gut getan. Naja, er lebt ja jetzt in Marin County, vielleicht hat die Landschaft einen guten Einfluss auf ihn … VG Wort Zählpixel

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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