Glücksspiel in der Politik

„Wir setzen auf Wirtschaftswachstum“, verkündet Angela Merkel, berichten die Medien. Fußballfans setzen im Toto auf ihren Verein, Spieler setzen auf die Null und hoffen auf einen hohen Roulette-Gewinn. Letztlich ist alles nur ein Glücksspiel.

Worauf alles gesetzt wird: Wirtschaftswachstum, baldiges Ende der Krise, Vernunft der Menschen, Einsicht in Sachzwänge, Fußballclubs, Lotto-Zahlen, Roulette-Felder, Kandidaten. Die Liste ist länger. Allen gemein ist, dass im Brustton der Sieger-Überzeugung gesagt wird: „Ich setze auf XX.“

Das ist ein Problem. Denn Sieger werden erst hinterher verkündet. Steht ein Sieger im Vorfeld fest, ist entweder Schummelei am Werk oder Allwissen. Ersteres ist verwerflich, zweites bleibt uns verwehrt. „Auf etwas setzen“ ist ein Glücksspielbegriff. Am Roulette-Tisch wählt der Spieler seine Einsätze, hofft auf etwas Glück und setzt dann auf bestimmte Zahlen, Sonderfelder oder eine Kombination. Das Spiel ist so austariert, dass die Bank am Ende des Spieltages immer gewinnt. Es gibt keine Setz-Kombination, die den Spieler tatsächlich gewinnen lässt. Die einzige Chance, beim Roulette tatsächlich zu gewinnen, besteht darin, bei jeder Runde den Einsatz mindestens zu verdoppeln – bis man tatsächlich gewinnt.

Im mittelalterlichen Turnier, so kann man sich vorstellen, gab es Wetten auf den Sieger. „Ich setze auf den schwarzen Ritter.“ „Was ist Euer Einsatz?“ Gewann der schwarze Ritter, konnte der Wetter – falls seine Wette angenommen wurde – etwas gewinnen, ohne sich selbst der Gefährdung seines Lebens ausgesetzt zu haben. Falls nicht, verlor er seinen Wetteinsatz. Das Prinzip ist das gleiche wie bei der TV-Sendung „Wetten Dass“ und beim Fußball-Toto. Natürlich setzt ein Fan stets auf seinen Verein, alles andere wäre ehrenrührig. Doch wenn der Verein nicht gewinnt, ist der Einsatz futsch.

Foto: Glücksspiele bieten keine Garantie.

Glücksspiele bieten keine Garantie.

Kanzlerin Angela Merkel ist ein Fan des Wirtschaftswachstums. Sie ist sicher, dass es gewinnen wird. Deshalb setzt sie darauf, wie erst vergangene Woche in ihrer Regierungserklärung. Doch setzt sie in diesem Fall nicht ihren persönlichen Wetteinsatz, sondern den der gesamten Bundesrepublik.

Der aufmerksame Regierungserklärungenleser wird jetzt rufen: „Moment, Frau Dr. Merkel hat doch in ihrer Erklärung am 10. November die Formulierung ,auf Wirtschaftswachstum setzen‘ gar nicht verwendet!“ Das ist fein beobachtet. Warum berichten die Nachrichtenagenturen dann stets davon, „Kanzlerin Merkel (CDU) setzt auf Wirtschaftswachstum“? Warum spricht die Opposition davon, dass Merkel auf Pump setze? Haben die Korrespondenten ihrer Kanzlerin nicht richtig zugehört? Machen sich die objektiven Berichterstatter mit der Opposition gemein? Oder spielt in die Formulierung „Kanzlerin Merkel (CDU) setzt auf Wirtschaftswachstum“ auch der allgemeine Eindruck ihrer Erklärung hinein? Sind sich die Redakteure in den Nachrichtenstuben der Glücksspielbedeutung dieser Formulierung bewusst? Oder verwenden sie diese einfach nur, weil sie so gut klingt? Fragen über Fragen.

Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich nur durch einen Zufall die Formulierung „Wir setzen auf Wirtschaftswachstum“ nicht im Redeprotokoll finden lässt. Merkel ist nicht dämlich; wenn wir ihr einiges unterstellen können, dann aber nicht Dämlichkeit. Denn wie die Nachrichtenredakteure höre auch ich aus unseren Regierungsplänen mehr Wunsch als Wissen, mehr Hoffen als Wissen, mehr Glücksspiel als Planung heraus. Dabei will ich jetzt gar nicht ins Detail gehen, ob durch eine Steuersenkung der Staatshaushalt saniert werden kann.

Ich stelle nur kurz zwei Dinge dazu fest: Erstens ist der historische Beleg, dass eine solche Strategie tatsächlich funktioniert, bislang nicht auffindbar; auch wenn man es unendlich wiederholt, wird diese Behauptung nicht richtig. Zum Zweiten bringen Steuersenkungen nur denen etwas, die viele Steuern zahlen. Steuern sind nicht das Hauptproblem der Normalverdiener. Wer weniger als 5.000 Euro pro Monat brutto verdient, zahlt gar nicht so viele Steuern, dafür aber ordentlich Sozialabgaben, von denen er oder sie aber auch profitiert, theoretisch jedenfalls. Die meisten Steuern zahlen alle an der Einkaufskasse (Stichwort Umsatzsteuer) und an anderen Stellen als beim Lohn – es sei denn, man ist entweder tatsächlich Großverdiener oder Großunternehmer, dann freut man sich über jede Steuersenkung.

„Wir werden erstens die Motivation und Leistungsbereitschaft der Arbeitnehmer und Arbeitgeber in unserem Land schnell und deutlich stärken, indem wir sofort damit beginnen, die Steuern zu senken …“ (Koalitionsvertrag, Seite 9). Nehmen wir ein Verkäufergehalt von 1.800 Euro als Basis. Davon werden 193 Euro Steuern gezahlt, 360 Euro sind Sozialversicherungsbeiträge. Eine Steuersenkung um illusorische zehn Prozent würde 19,30 Euro höheres Netto bedeuten – der Verkäufer oder die Verkäuferin wüsste nicht wohin vor Glück. (Dieses Beispiel übernehme ich nach Nachrechnung von Volker Pispers, siehe Amazon-Link rechte Spalte.)

Das „Setzen auf Steuersenkungen“ ist somit nicht nur Augenwischerei, populistische Demagogie, sondern vor allem eine Frechheit gegenüber allen, die tatsächlich Steuern zahlen und sich davon erstens eine anständige Politik und zweitens gewisse Grundsicherungen (wie Freiheit, Sicherheit, Kultur, Bildung, etc.) erhoffen. Diejenigen, die am meisten von Steuern profitieren, profitieren am wenigsten von Steuersenkungen. Diejenigen, die am meisten von Steuersenkungen profitieren, werden jetzt nicht aus lauter Glückseligkeit über mehr Barvermögen massenhaft Personen einstellen, jedenfalls haben sie das in der Vergangenheit nicht getan und ich „setze nicht darauf“, dass sie ihre Strategie jetzt plötzlich ändern.

Wer „auf Steuersenkungen setzt“, würde bei einem Turnier auch auf den 78-Jährigen in klapprig-rostiger Rüstung auf einem halbverhungerten Esel daherreitenden Ritter ohne jede Rittererfahrung, der am Vortag von seinem achtjährigen Enkel verprügelt wurde, als Sieger wetten. Dabei ist doch jedes „Setzen auf etwas“ mit dem Glauben eigentlich an das Siegen verbunden, mit dem Hoffen auf die richtige Wahl. Viele beten dann, dass das Glück ihnen hold sei und sie richtig gesetzt haben, dass sie in diesem Spiel gewinnen.

Manche glauben an ein Leben nach dem Tod, an Wiedergeburt oder an die unbeschränkte Macht Satans oder der Wissenschaft. Manche hoffen auf das Eintreffen eines Messias, auf das Ausbleiben einer Katastrophe oder auf die große Liebe. Jeder einzelnen Person sei dieses Glauben und Hoffen vorbehaltlos zugestanden. Doch in Deutschland besteht eine strikte Trennung zwischen Kirche und Staat. Glaube und Politik sind zwei verschiedene Spielwiesen.

Mag Kanzlerin Merkel Lottospielen wie sie will, ein wenig Privatleben sei auch der mächtigsten Frau Deutschlands gegönnt. Doch in ihrem beruflichen Umfeld hat Glücksspiel nichts zu suchen! Wenn sie auf etwas setzen will, dann bitte auf die Vernunft der Menschen, denn da ist viel Hoffnung nötig. Doch die Ausgabenpolitik des Staates von Hoffnung abhängig zu machen, verletzt ihren Amtseid. Damit dient sie eben nicht dem Volke, sondern verspielt dessen Zukunft.

Nachsatz: Wer jetzt argumentiert, dass „setzen auf“ ja im Sinne von „vertrauen auf“ gebraucht werde, der erinnere sich daran, dass deusche Politiker nach „bestem Wissen und Gewissen“ handeln sollen, nicht im Vertrauen. Denn im Vertrauen gesagt, haben einige mit Wissen und Gewissen genug zu tun.

Alexander Florin: Alexander Florinein Kind der 70er • studierter Anglist/Amerikanist und Mediävist (M.A.) • wohnhaft in Berlin • Betreiber dieses Blogs zanjero.de • mehr über Alexanders Schaffen: www.axin.de ||  bei Facebook || auf Twitter folgen

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